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1995-1999:

1999 - Der bayrische Jedermann

1998 - Lumpaci Vagabundus

1997 - Hinterkaifeck

1996 - Madame Bäurin

1995 - Der Knecht Dismas

Allgemein:

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Impressum

Autor: Reinfried Keilich
Spielleitung und Regie: Ferdinand Limmer

Mitwirkende:
Andreas Gruber, Altbauer: Michael Seebauer
Cäzilia Gruber, seine Frau: Theresia Limmer
Viktoria Gabriel, beider Tochter: Birgit Kinner
Cilli Gabriel, deren Tochter: Maria Limmer
Maria Baumgartner, Magd: Sieglinde Scheidhammer
Michael Plöckl, Knecht: Bernhard Niedermeier
Josef Mayer, Postbote: Jakob Meier
1.Sprecher: Ferdinand Limmer
2.Sprecher: Klaus Geltinger

Inhalt:
Wird die Einöde heimlich beobachtet?
Krachend schlägt ein hölzerner Laden gegen das Schlafzimmerfenster des Einödhofes in Hinterkaifeck. Ist da nicht Glas gesplittert? „Herrgottsakra. Wie oft soll ich noch sagen, ihr sollt bei dem Sauwetter die Läden einhängen.“
Missmutig steht der Austragsbauer Andreas Gruber auf. Er ist 63 Jahre alt fast 1,80 Meter groß, von kräftiger Statur, furchtlos und durch nichts so leicht zu erschüttern. Vor sich hinschimpfend verlässt er die Küche im Erdgeschoß und geht in die Wohnstube, Er trägt eine alte Hose und eine mehrfach geflickte Jacke. Auf sein Äußeres legt er keinen Wert. Wer ihn kennt, weiß, dass er nicht nur geizig, sondern auch menschenscheu, stur und äußerst misstrauisch ist. Aber die Arbeit scheuen weder er noch seine Tochter. „Gott sei Dank, nichts passiert.“ Er öffnet mit seinen schwieligen Händen das Fenster, beugt sich weit hinaus, wirft schwungvoll den Laden zurück und hakt ihn ein.
Der hintere Kaifeck-Hof liegt einsam inmitten von Feldern. Nach Gröbern, von dessen wenigen Häusern nur einige Dächer hinter einer leichten Hügelwelle hervorlugen, sind es keine 500 Meter, nach Wangen zwei Kilometer und nach Waidhofen knapp fünf Kilometer. Die Einöde ist von drei Seiten her vom Wald umschlossen. Die Bäume drängen im Süden bis auf 400 Meter an das lang gestreckte, einstöckige Anwesen heran. Zu dem Hof gehören mehrere Nebengebäude wie Scheune, Maschinenhaus, Backofen, und ein Holzschuppen. Der Stall grenzt direkt an das Wohnhaus an. Von dem Fernsten im ersten Stock geht der Blick hinüber zum westlichsten Haus in Gröbern, dem Hof von Ortsführer Lorenz Schlittenbauer.
Sekunden später wird die Hausttüre aufgerissen. Über und über mit Schnee bedeckt stolpert die kleine Cäcilia in die Küche. „Mama“, ruft das Mädchen der jungen Frau zu, „schau, was wir in der Schule gemalt haben.“ Noch bevor es sich auszieht, kramt das Kind in seinem Schulranzen, holt ein Zeichenblatt hervor und faltet es auseinander. Von dem weißen Papier leuchtet in grellem Gelb eine Sonne, strahlt auf eine grüne Wiese und einen dunklen Wald. „Mama, schau doch, ist meine Sonne nicht schön?“ Viktoria Gabriel schaut kurz auf die Zeichnung. „Ja“, sagt die 35jährige Witwe, „sie ist schön.“ Plötzlich schlägt sie die Hände vor ihr hübsches Gesicht, schüttelt immer wieder den Kopf und stammelt: “Ich kann nicht mehr, ich halte das nicht mehr aus.“ Langsam rinnen Tränen über ihre Wangen.
In diesem Augenblick kommt Andreas Gruber zurück in die Wohnstube. Wortlos legt er der Witwe den Arm um die Schulter, drückt sie fest an sich. Sanft streichelt er über ihr dunkelblondes Haar. Mit einer Behutsamkeit, die man ihm gar nicht zugetraut hätte, wischt er die Tränen mit der bloßen Hand ab, zieht ihre Haarsträhnen von den Augen weg. „Ist ja schon wieder vorbei.“ Viktoria Gabriel, deren Mann 1914 nach nur einigen Monaten Ehe in Frankreich gefallen ist, hört die beruhigende Stimme ihres Vaters wie aus weiter Ferne. Sie schließt die Augen. Jetzt sieht sie es wieder ganz nah vor sich - da ist dieses Gesicht, das sie seit Tagen verfolgt. Ein heftiger Weinkrampf schüttelt sie.
Andreas Gruber hält seine Tochter noch fester. Seine Frau sitzt auf der Fensterbank und näht. Sie ist neun Jahre älter als er, war schon einmal verheiratet und hat den Einödhof mit in die Ehe gebracht. Ihre verhärmten Gesichtszüge lassen keinerlei Regung erkennen. Teilnahmslos starrt sie auf die Nadel, mit der sie eine aufgerissene Hosentasche flickt.
Durch das Weinen seiner Mutter ist der zweieinhalbjährige Josef wach geworden. Er liegt trotz seines Alters in einem Kinderwagen mit großen Rädern im Schlafzimmer seiner Mutter nebenan. Als sich niemand um den Buben kümmert, wirft die alte Frau zornig Nadel und Faden auf den Tisch, legt die Hose beiseite und geht hinaus, Mit dem Kind auf dem Arm kommt sie zurück. Stumm setzt sie den Buben auf ihren Schoß. Viktoria Gabriel hat sich wieder beruhigt. Sie nimmt der alten Frau den Zweieinhalbjährigen ab und geht ans Fenster.
Der Schneeschauer hat nachgelassen. Es ist neblig geworden. Der Blick reicht nicht weit. Alles ist zu einem milchigen Brei verschwommen. Die leichte Hügelwelle, auf der einige Hausdächer von Gröbern wie auf einem Pferderücken sitzen, versinkt wie in einem endlos-weiten Meer. Obwohl es erst kurz nach drei ist, zündet Andreas Gruber die Petroleumlampe über dem Tisch in der Wohnstube an. Es dauert einige Minuten, bis die Flamme richtig brennt. Ihr Flackern lässt die Schatten an den Wänden unruhig auf- und abtanzen.
Andreas Gruber ahnt, warum seine Tochter mit den Nerven am Ende ist. Es ist die Angst, weil sie glaubt, beobachtet, verfolgt und belauscht zu werden. Vor einigen Tagen erst hat Viktoria Gabriel am Waldrand einen Unbekannten gesehen. Der Mann stand zwischen den Bäumen und starrte minutenlang auf das Haus. Plötzlich verschwand er wieder.
Sie hatte ihrem Vater davon erzählt, und der hatte sie mit der Bemerkung zu beruhigen versucht, daß sie sich vielleicht getauscht habe. Doch Andreas Gruber weiß nur zu gut, daß sich seine Tochter nicht geirrt hat. Er selbst sah den Unbekannten wenig später fast an der gleichen Stelle. Viktoria hatte er dies jedoch verschwiegen. Er wollte sie nicht noch mehr erschrecken. Immer noch heult der Wind um das Wohngebäude. Was mag dieser Mann von uns wollen? Andreas Gruber hat sich diese Frage schon oft gestellt. Er findet auch jetzt keine Antwort. Seine Hand fährt über die Stirn, seine Finger zupfen am leinenen Tischtuch. Dann zündet er sich eine Pfeife an. Nachdenklich blickt er den Rauchkringeln nach, die langsam zur gekalkten Decke steigen, sich auflösen.
Draußen ist es noch dunkler geworden. Andreas Gruber steht auf „Ich seh noch einmal nach“, sagt er zu seiner Familie, schlüpft in die Jacke, schlägt den Kragen hoch und greift nach der Kreuzhaue, die er zum Reparieren in die Stube geholt hatte. Viktoria, bleich im Gesicht, schaut ihren Vater an. „Bleib“, fleht sie, „geh nicht da raus.“ Doch der kräftige Mann schiebt sie vorsichtig, aber bestimmt zur Seite. „Ich bin gleich wieder da.“
„Vater - Vater!“ Viktorias Schreie gellen durch das ganze Haus. Aber der 63jährige ist schon an der Tür. Sie hört noch einen Knall. Dann ist sie mit ihrer Mutter und den Kindern allein. Durch die angelaufene Fensterscheibe sieht die junge Witwe ihren Vater. Fest hält er die Kreuzhaue in der Hand. Jetzt ist er am Drahtzaun, der das ganze Anwesen einfriedet. Zuerst geht er ein Stück auf dem Feldweg in Richtung Gröbern. Nach wenigen Metern macht er kehrt, bleibt stehen und stapft auf den Wald zu. Der Nebel ist dichter geworden. Es dauert nicht lange, dann ist Andreas Gruber in den milchigen Brei und im Dämmerdunkel eingetaucht.
Nach einer knappen halben Stunde kommt er zurück. An seinem Gesicht sieht Viktoria Gabriel, dass etwas vorgefallen sein muss. Der Alte sagt nichts. Er zieht die Jacke aus, stellt die Kreuzhaue wieder in die Ecke. Er schweigt immer noch, „Du hast recht gehabt“, meint er plötzlich zu seiner Tochter, „wir werden beobachtet!“ Sozusagen als Beweis legt er eine zusammengefaltete nasse Zeitung auf den Küchentisch. „Ich habe sie gerade am Waldrand gefunden, sie ist von vorgestern.“
Erschrocken schauen die beiden Frauen den Mann an. Vom Gang her klingt das Lachen und Lärmen der zwei Kinder. Die alte Gruberin fasst sich am schnellsten wieder. Vorsichtig langt sie nach dem Blatt, faltet es behutsam auseinander, als könnte jeden Augenblick etwas Furchtbares passieren. „Münchner Post“ liest sie laut vor.

aus dem Buch „Hinterkaifeck - Der Mordfall“ von Peter Leuschner

Stand des Dokuments: 01.04.2006